Für eine Schultheatergruppe bringt eine Eigenproduktion einen wesentlichen Vorteil mit sich: die Schülerinnen und Schüler können sich ein „eigenes“ Stück selbständig erarbeiten, mit dem sie sich identifizieren und in das viele persönliche Ideen einfließen. Anderseits bergen Eigenproduktionen auch Gefahren: Am Ende kann das Stück inhaltlich oberflächlich bleiben, Klischees reproduzieren oder dramaturgisch wenig wirkungsvoll komponiert sein.
Aus diesem Grund ist es hilfreich, einen methodischen Zugang zu finden, der die Entwicklung der Eigenproduktion strukturieren und leiten kann. Allgemein können drei Arten von Eigenproduktionen unterschieden werden [1]:
Im Folgenden soll ein einfach zu handhabendes Modell vorgestellt werden, das sich auf den letztgenannten Typ bezieht. Eine derartige Eigenproduktion kann aus den drei Bausteinen Leitfrage, Handlungsgerüst und Anker entwickelt werden.[2] Dieses Modell haben wir zwei Projekten der Jungen Theaterakademie Offenburg zugrunde gelegt: „Vision Freiheit“ (2015) und „Peter Pan oder das vergessene Nimmerland“(Premiere am 7. Dezember 2016). Beides sind Gemeinschaftsprojekte der Theater-AG des Grimmelshausen-Gymnasiums und der Haus- und Landwirtschaftlichen Schulen Offenburg (Bühnenbild und Kostüme).
Am Anfang einer Eigenproduktion steht nicht selten eine Leitfrage, auf die sich die Gruppe einigt. Bei dem Stück Vision Freiheit. Die Revolution 1848/49 in Offenburg gingen wir von der Leitfrage aus: „Was ist Freiheit?“, bei Peter Pan oder das vergessene Nimmerland von den Fragen: „Was bedeutet für mich Kindheit?“ und „Ist Kindheit in unserer heutigen, ökonomisierten Leistungsgesellschaft gefährdet?“. In der Leitfrage sollte sich das persönliches Interesse der Gruppe am Stück oder am Thema bündeln. Dann kann die Leitfrage der Auseinandersetzung mit dem Stück eine Richtung geben, mit der sich die Schüler identifizieren.
Häufig bildet aber nicht die Leitfrage den Beginn der gemeinsamen Arbeit, sondern der Wunsch, einen bestimmten dramatischen oder erzählerischen Text zu inszenieren. Die Leitfrage ergibt sich dann aus der weiteren Beschäftigung mit der Textvorlage, sei es in Form von Diskussionen oder von szenischen Improvisationen.
Für unsere Eigenproduktion Peter Pan oder das vergessene Nimmerland bildet James Barries Roman Peter and Wendy (1911) die Textgrundlage. Eine geeignete Handlungsstruktur findet sich aber nicht ausschließlich in literarischen Texten. Für Vision Freiheit waren es die historischen Ereignisse der Revolution 1848/49 in Offenburg, die ein Geflecht von Handlungs- und Figurenkonstellationen vorgaben. Welcher Art auch immer die Handlungsstruktur ist: sie bietet (im Vergleich zu einer reinen Szenencollage) den großen Vorteil, die Entwicklung der Eigenproduktion von Anfang an dramaturgisch zu strukturieren.
Der nächste Schritt besteht darin, die dramatische Handlung im Erfahrungshorizont der Theatergruppe zu „verankern“. Durch diesen dritten Baustein können die Schülerinnen und Schüler einen ganz persönlichen Zugang zur Leitfrage und zur Handlung finden. Vor allem zwei Möglichkeiten bieten sich an:
1. Biografisches Material
Eigene Ideen, Gedanken, Erfahrungen oder Erlebnisse können in das Stück eingebaut werden. Durch Schreibaufträge und Improvisationen lässt sich biografisches Material gewinnen.[3] Um die Aktualität von Peter Pan erfahrbar zu machen, bekamen alle Schüler den Auftrag, den Satz „Ich möchte mit Peter Pan ins Nimmerland fliegen, weil…“ aus ihrer eigenen Lebenseinstellung heraus zu vervollständigen. Ebenso haben alle eine ganz persönliche Antwort auf die Frage verfasst: „Kindheit bedeutet für mich…“.[4]
Das so generierte Material sollte anonymisiert werden: im Schultheater kann es nicht darum gehen, individuelle Lebensschicksale der Schüler auf die Bühne zu bringen (wie in zahlreichen biografischen Produktionen professioneller Theatergruppen, z.B. bei Rimini Protokoll), sondern darum einen kollektiven Zugang der Gruppe zum Thema zu finden.[5] Entsprechend sollten die biografischen Texte auf der Bühne in der Regel von anderen Schülern gesprochen werden, als von denen, die sie verfasst haben.
Nicht nur geschriebene Texte oder improvisierte Dialoge können einen biografischen Bezug zum Thema herstellen. So haben bei der Entwicklung von Vision Freiheit zwei Schüler der Theater-AG die Idee eingebracht, dass Freiheit sich für sie in der Sportart Parkour ausdrückt. Aus diesem Impuls heraus haben wir Parkour-Szenen leitmotivisch in das Stück eingebaut – und so zugleich die Turner-Bewegung der Revolutionszeit in einer für heutige Schüler authentisch erlebbaren Weise aktualisiert.
2. Dokumentarisches Material
Die Theatergruppe oder der Theaterlehrer können dokumentarisches Material (Texte, Bilder, Filme,…) zum Thema des Stücks sammeln. Dieses Material sollte in Bezug zur Lebenswelt der Schüler stehen. Für Peter Pan haben wir zu gegenwärtigen Entwicklungen im Bildungssystem und zu heutigen Erziehungstrends recherchiert. Diese Recherche hat uns dazu geführt, die Eltern der Darling-Kinder nach dem Modell der „Helikopter-Eltern“, die den Leistungs- und Erfolgsdruck der Gesellschaft aus einer panischen Statusangst heraus auf ihre Kinder übertragen, neu zu konizipieren. In Improvisationen haben die Schüler die entsprechenden Szenen selbst entwickelt. Unsere Eigenproduktion hat dadurch einen gesellschaftskritischen Ansatz gewonnen.
Ebenso wie bei biografischen Zugängen können auch bei dokumentarischen andere Bezugspunkte als Texte szenisch genutzt werden: In Vision Freiheit haben wir ausgehend von der Offenburger Statue „Freiheit männlich/weiblich“ des amerikanischen Künstlers Jonathan Borofsky choreografische Bewegungsmuster entwickelt, in denen sich das Freiheitsgefühl der Revolutionszeit ebenso wie das unserer Gegenwart symbolisch verdichtet.
Diese drei Bausteine können im Prozess der Stückentwicklung auf vielfältige Weise verknüpft werden. Hier kann der Phantasie der Gruppe freien Lauf gelassen werden… Konkret besteht das Ziel darin, die dramatische Handlungsstruktur mit biografischem und dokumentarischem Material zu verknüpfen, um so eine authentische theatrale Auseinandersetzung mit der Leitfrage zu finden.
Neben die dramatischen Handlungs- und Dialogszenen können durch diese Kompositionstechniken unterschiedliche Szenentypen treten, z.B.:
Durch derartige Kompositionstechniken wird die Handlungsstruktur mehr oder weniger stark „perforiert“ oder aufgebrochen: aus der dramatischen Vorlage entwickelt sich schrittweise eine post-dramatische Eigenproduktion. Verläuft diese Stückentwicklung partizipativ und werden die Schüler mit ihren ästhetischen Wahrnehmungen ernstgenommen, kann die entwickelte Textfassung mehr oder weniger nah an der dramatischen Vorlage bleiben oder sich von ihr radikal verselbständigen. Im Spannungsfeld zwischen dramatischer Vorlage und post-dramatischer Eigenproduktion gibt es so eine Vielzahl an Übergangen, die jede Gruppe authentisch und kreativ gestalten kann.
Paul Barone
Kindheit bedeutet für mich, sorglos zu sein. In einer Art Glaswelt zu leben, in der alles in Ordnung ist und in der das größte Problem die Frage nach der Lieblingsfarbe ist. Wenn man von Kriegen, Anschlägen und Hungersnöten nichts weiß und sich nicht einmal denken kann, dass es so etwas gibt. Wenn Erwachsene alle gute und perfekte Menschen sind und man sorglos, optimistisch und fröhlich an alles herangehen kann, dann ist man ein Kind.
Ich möchte mit Peter Pan ins Nimmerland fliegen, weil ich dort noch einmal meine Kindheit voll ausleben könnte, ohne von Außenstehenden dafür verurteilt zu werden. Und mich dort niemand zum Erwachsenwerden zwingen könnte – ich wäre frei, auch von dem Druck, den ich momentan ständig von vielen Seiten bekomme.
Ich möchte mit Peter Pan ins Nimmerland fliegen, weil ich dort ich selbst sein kann. Das Nimmerland kennt kein Alter und ich darf für immer Kind sein, für immer ausgelassen, neugierig sein und Fragen stellen. Ich bin mutig, wenn ich will, ich darf aber auch schwach sein.
[1] Vgl. Lorenz Hippe: Und was kommt jetzt? Szenisches Schreiben in der theaterpädagogischen Praxis. Weinheim 2011, S. 224-237.
[2] Wertvolle Anregungen für diesen Ansatz finden sich in: Anne Bogart/ Tina Landau: The Viewpoints Book. A Practical Guide to Viewpoints and Composition. New York 2005, S. 153-161.
[3] Zur Methodik des biografischen Theaters vgl.: Maike Plath: Biographisches Theater in der Schule. Mit Jugendlichen inszenieren: Darstellendes Spiel in der Sekundarstufe. Beltz: Weinheim/ Basel 2009; Maike Plath: Partizipativer Theaterunterricht mit Jugendlichen. Praxisnah Perspektiven entwickeln. Weinheim/ Basel 2014.
[4] Es ist wichtig, dass diese Schreibaufträge freiwillig sind: Niemand sollte sich unter Druck fühlen, etwas Persönliches preiszugeben. Denn nur unter dieser Voraussetzung entstehen authentische Texte.
[5] Zum Unterschied zwischen diesen beiden Formen des biografischen Theaters vgl.: Norma Köhler: Biografisches Theater. Biografische Theaterarbeit zwischen kollektiver und individueller Darstellung. Ein theaterpädagogisches Modell. München 2009.
aus: Handreichung „So kommt Theater an Ihre Schule“