Im Titelkupfer von Grimmelshausens „Simplicissimus“ wird die Lebensbeschreibung dieses „seltzamen Vaganten“ als „überauß lustig und männiglich nutzlich“ angepriesen. Aber kann das Werk des Barockdichters fast 350 Jahre später noch in Anspruch nehmen, nicht bloß „lustig“ zu sein – was wohl kein Leser bezweifeln wird –, sondern auch „nützlich“? Und vor allem: welchen „Nutzen“ kann es haben, wenn heutige Schülerinnen und Schüler Grimmelshausens dichterische Welt auf die Bühne bringen? Warum machen wir uns anlässlich der 350-Jahr-Feier unseres Gymnasiums an ein Musiktheaterprojekt nach Grimmelshausens Romanen „Courasche“ und „Simplicissimus“? Eine erste Antwort könnte lauten: um unsere jungen Menschen am kulturellen Gedächtnis teilhaben zu lassen, um ihnen Einblicke in das Zeitalter des Barock zu geben, in dasjenige Jahrhundert, in dem unsere Schule gegründet wurde. Aber vielleicht greift diese Antwort zu kurz. Thomas Mann hat Grimmelshausens Erzählwerk treffend „bunt, wild, roh, amüsant, verliebt und verlumpt, kochend von Leben“ genannt. Ermöglicht nicht gerade dieses sündhaft schöne Panorama menschlichen Lebens, Jugendlichen in ganz andere, fremdartige Rollen zu schlüpfen, als es ihnen im Alltag möglich ist? Eröffnet sich ihnen hier nicht – im ästhetischen Freiraum – die einzigartige Chance, ganz andere menschliche Erfahrungen zu machen, ganz andere Dimensionen des Menschseins zu erleben?
Unsere theaterpädagogische Arbeit lässt sich von der Überzeugung leiten, dass der eigentliche Bildungswert des Theaterspielens darin besteht, jungen Menschen andere Facetten, fremde Möglichkeiten menschlichen Handelns erlebbar und ganzheitlich erfahrbar zu machen. Ein Grundgedanke ist dabei für uns leitend: Theaterspielen verstehen wir als einen gemeinsamen Weg. Der Weg, den wir von der ersten Probe bis zur Aufführung zurücklegen, ist ein Prozess, den alle Mitwirkenden in gemeinsamer Arbeit gestalten. Wo der Weg hinführt – d. h. welches ästhetische Produkt am Ende des Prozesses steht – ist am Anfang nicht absehbar, weil die Inszenierung erst aus den vielfältigen Ideen, die alle während der Probenzeit einbringen können, entsteht. Dieser Grundgedanke des gemeinsamen Miteinanders prägt unsere Arbeitsmethode, die sich aus drei verschiedenen Bausteinen zusammensetzt.
Als die jetzige Theatergruppe sich vor drei Jahren bildete, wurden die Schülerinnen und Schüler zunächst durch schauspielerische Übungen ans Theaterspielen herangeführt. Die Schüler lernten in vielfältigen Übungen zur Raumerfahrung, zum Ausdruck, zur Interaktion, zu Atem und Stimme die Grundlagen des Theaterspielens kennen. Prägend für unseren Ansatz ist, dass die Schülerinnen und Schüler angeregt werden, gespielte Rollen auch innerlich zu erleben und sich in sie hineinzuversetzen. Dieser Zugang über die innere Erfahrung wird in verschiedenen Grundübungen erprobt: z. B. sollen sich die Schauspieler in einem Gefühl der Angst, der Freude, etc. durch den Raum bewegen oder auf fiktive Situationen reagieren. Diese Betonung des inneren Erlebens, die dem schauspieltheoretischen Ansatz Stanislawskis verpflichtet ist, ergibt sich aus unserem pädagogischen Anliegen, Möglichkeiten menschlichen Seins ganzheitlich erfahrbar zu machen.
In Improvisationen erfolgt dann die Annäherung an ein Stück und seine Rollen. Dieser zweite Baustein ist das Kernstück unserer theaterpädagogischen Methode: aus Improvisationen heraus entwickeln wir die verschiedenen Szenen des Stücks. Es ist unser Ziel, dass die Schüler aus ihrer eigenen Vorstellungskraft heraus die szenische Umsetzung des Textes erarbeiten. Wir wenden dabei verschiedene Improvisationstechniken an, um die Spontaneität und Kreativität der Schauspieler anzuregen.
Den Schülern wird eine bestimmte szenische Situation vorgegeben, die anhand der W-Fragen Wer? Was? Wo? Wann? Warum? Wozu? Wie? charakterisiert werden kann. Auf diese Situation können die Schüler mit ihrer Vorstellungskraft reagieren. So haben wir eine Improvisation zu folgender dramatischer Situation durchgeführt: eine Gruppe Verwundeter versucht im Dreißigjährigen Krieg aus der Schlacht zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Die Schüler haben spontan Rollen von erstaunlicher Intensität improvisiert: Verwundete, die sich trotz aller Not gegenseitig helfen, Soldaten, die ihren sterbenden Kumpan mit letzter Kraft pflegen, eine Traumatisierte, deren Blick nur noch ins Leere geht, Verkrüppelte, die nur noch an die Rettung des eigenen Lebens denken…
Eine weitere Improvisationsmethode, die wir immer wieder anwenden, ist das Bebildern einer Szene. Die Schauspieler kennen die Ausgangssituation ebenso wie die verschiedenen Drehpunkte der Szene: ohne den Text in der Hand stellen sie das Ausgangsbild, gehen aus diesem in Zeitlupe in das nächste Bild über usw., bis sie für die ganze Szene eine Abfolge szenischer Bilder gefunden haben. In dieser Weise haben wir das bunte Markttreiben entwickelt, das als Eröffnungsbild einen lebhaften Eindruck von den Friedenszeiten nach dem Dreißigjährigen Krieg vermitteln soll. Erst nachdem wir diese Bilder entwickelt haben, nehmen wir den Text hinzu. Auf diese Weise lässt sich vermeiden, dass die Schüler den Text bloß aufsagen, statt eine Rolle glaubwürdig zu verkörpern.
Diese Improvisationen werden durch Übungen zur Rollenfindung ergänzt. Ziel ist, dass die Schauspieler sich – im Sinne Stanislawskis – in ihre Rolle einfühlen, sie ganzheitlich erleben. Sie werden aufgefordert, sich ein oder mehrere Grundgefühle ihrer Rolle bewusst zu machen und sich in dieser Emotion durch den Raum zu bewegen, andere zu begrüßen, kurze, sinntragende Textstellen aus diesem Subtext heraus zu sprechen usw. Wichtig ist auch, dass sie sich klar werden, was ihre Figur eigentlich will: die junge Libuschka will einfach dazugehören, sie will mit den Soldaten saufen, fluchen, sich prügeln…
Bei diesen Übungen zur Rollenfindung wird der Weg von innen nach außen durch den umgekehrten Weg von außen nach innen ergänzt: die Schauspieler sollen ausprobieren, welchen Körperteil sie betonen müssen, um die Haltung ihrer Rolle zu finden (z. B. können die jungen Soldaten die Schultern oder die Brust betonen); manchmal kann es auch helfen, den Zug eines Tieres in die Rolle zu legen (z. B. kann ein Freier sich wie eine Katze an die Courasche heranschleichen).
Die Phase der Improvisation mündet in die letzte Phase der Regie (im engeren Sinne), in der es darum geht, das in Improvisationen Erarbeitete auszubauen und schließlich zu fixieren. Entscheidend ist, dass die Kreativität der Schüler in dieser letzten Phase erhalten bleibt. Aus diesem Grund verstehen wir Regie als eine mäeutische Aufgabe: der Spielleiter soll den Schauspielern helfen, ihre Rolle selbst zu gestalten. Er kann Angebote machen und Impulse geben, er kann die Schauspieler darin unterstützen, eigene gute Ideen zu verstärken, Überflüssiges zu reduzieren. Vor allem aber kann er ihnen in einem offenen Regiegespräch, in einem partnerschaftlichen Dialog helfen, sich die szenische Situation anschaulicher vorzustellen und zu jeder einzelnen Handlung oder Körperhaltung einen Subtext zu finden, d. h. innere Vorstellungen oder Gefühle, die die Rolle und den Text mit Leben füllen können. Im Idealfall gelingt es, dass der Schauspieler sich selbst seine eigene Rolle schafft, sie innerlich erlebt und begründet verkörpert.
Obzwar wir einen schauspielerischen Stil anstreben, der sich durch innere Glaubwürdigkeit auszeichnet, brechen wir diesen Realismus durch stilisierte szenische Bilder und schauspielerische Verfremdung auf. Hierzu gehören insbesondere die Techniken des slow motion und des freeze. So wird z. B. die Situation, in der die junge Courasche von den Soldaten das Trinken lernt, in Zeitlupe gespielt, was dieser Handlung eine besondere mimische und gestische Intensität gibt.
Im Schultheater gehen pädagogische und ästhetische Ziele eine ganz besondere Symbiose ein. Die pädagogischen Ziele mindern nach unserer Auffassung aber nicht die ästhetische Qualität, sondern ermöglichen es erst, eine eigene Ästhetik zu schaffen. Das möchte ich an zwei Gesichtspunkten erläutern. Die Zusammensetzung und Größe einer schulischen Theatergruppe stimmt in den seltensten Fällen mit den Gegebenheiten eines Dramentextes überein. Auf verschiedene Weise versuchen wir diesem Problem zu begegnen. Ein erstes Verfahren ist das Schaffen von Gruppenszenen, z. T. mit chorischen Elementen. Im Text der „Courasche“ waren solche pantomimischen Massenszenen angelegt, wir haben diese aber weiter ausgebaut. Im dritten Bild werben mehrere Freier um die Courasche. Wir haben dieses private Geschehen in die Öffentlichkeit, auf einen bunt belebten Marktplatz verlegt. Marktfrauen, edle Damen, spielende Kinder, Liebespaare erleben mit, wie die trauernde, noch unschuldige junge Witwe von Männern umworben und schließlich zur leichtlebigen Hure wird. Diese szenische Adaptation schafft neue Sinnbezüge, die im Text nicht explizit enthalten waren: es wird zum Ausdruck gebracht, dass die Courasche auch deshalb zur Hure wird, weil sie es lernt, sich selbst in ihrer Eitelkeit öffentlich zu inszenieren – wir lassen so das barocke Spiel von Sein und Schein anklingen. In diesem Spannungsfeld von Individuum und Masse eröffnen Gruppenszenen die Möglichkeit, ästhetisch sehr kontrastreich szenische Bilder zu erzeugen – die Not der scheinbar zu großen Theatergruppe wird zur Tugend.
Weitere Verfahren sind das Splitten und Vervielfachen von Rollen. Um einer Grunderfahrung Grimmelshausens, dem Wissen von der Unbeständigkeit alles menschlichen Handelns, eine moderne Deutung zu geben, haben wir die Rolle der jungen Courasche gesplittet: die zwar kämpferische, aber noch anfechtbare Courasche, die durchaus noch Halt und Geborgenheit sucht, wird von einer anderen Darstellerin verkörpert als die emanzipierte Courasche, die kaltblütig die Machtverhältnisse ihrer Zeit provokativ auf den Kopf stellt: in ihrer souveränen Selbstinszenierung als „schönste Hur in den Armeen“ gelingt es ihr zumindest vorübergehend, sich als Frau in einer von Männern dominierten Welt zu behaupten. Im Licht der wechselhaften Fortuna – auf der Bühne durch ein überdimensionales Rad symbolisiert – zeigt sich so die menschliche Identität als wandelbar, brüchig und instabil.
Die Erzählerfigur, die in der Textvorlage der „Courasche“ das Geschehen vorstellt, haben wir durch eine Gruppe von Spielleuten ersetzt, die – so die Fiktion – als fahrendes Volk die Geschichte der „verruchten, gottlosen“ Hure Courasche auf den Marktplätzen zum Besten gibt. Wir haben durch diese Rollenvervielfachung nicht nur mehr Schülerinnen einbeziehen können, wir halten auch die Erinnerung an eine Form von Theater wach, die im heutigen Kulturbetrieb immer mehr in Vergessenheit gerät: nämlich die Jahrhunderte alte Kunst der Spielleute, Gaukler und Bänkelsänger. Diese Theatertradition steht für ein körperliches, improvisierendes, spontanes Theater. Das Schultheater kann von dieser Kunst der Spielleute ein wesentliches Moment bewahren: die Spielfreude. In den jungen Menschen die Freude am Theaterspiel, die Lust an der Verwandlung zu wecken, zu fördern und zu beleben ist sicherlich das Schönste am Schultheater. Diese natürliche Spielfreude junger Menschen auf der Bühne lebendig werden zu lassen, schafft den eigentümlichen Zauber des Schultheaters, seine ihm ganz eigene Ästhetik in einer zunehmend entzauberten Welt.
Paul Barone